Mittwoch, 15. Juli 2015

Warum es mir nicht mehr so schwer fällt Essen zu verlassen



Eine völlig verwitterte Rot-Weiss-Essen Fahne die fahl an einem schmutzigen Stahlgitter eines leeren Balkons hängt, darunter am Haus noch eine alte Werbetafel für Autozubehör, im 90er Jahre Stil.

Obwohl ich Fußball hasse, sind das die Momente die meinen Lokalpatriotismus noch einmal aufflackern lassen. Das Geschäft für Autozubehör hat sicher schon vor Jahren geschlossen - in den 90ern wurde es sicher betrieben von Kalle - 35, Raucher, Vorkuhila - der mit seinen Kollegen vor dem Laden stand und den rot lackierten VW Scirocco mit Leopardenfell Sitzbezügen aufmotzte. Ja, das klingt asozial - aber ich finde es charmant. Charmant wie all die anderen Vorstellungen die ich davon habe, wie meine schmutzige, triste, Großstadt mal gewesen sein muss.

Aber, aber! Was ist denn mit unserer wunderbaren Ruhrpott Kultur! - Kultur? - diese Stadt ist gesichtslos und ich klammere mich an meine romantische Vorstellung vom kleinen, einfachen aber zufriedenen Arbeiter, dem Kumpel, der nach seinem Feierabend mit seinen Kollegen an einer der mannigfaltigen "Büdchen" steht, sein Bier trinkt, während ein paar Kinder vor den nummerierten Kästen der zäh gewordenen Weingummis stehen und sich eine "gemischte Tüte - aber ohne Lakritze bitte!" zusammenstellen lassen. Diese Büdchen, die heute kaum noch da sind und wenn, umfunktioniert wurden zum sterilen, verchromten, mit lilanen und blauen Neonlichtern beleuchteten, begehbaren Nachtkiosk - wie in jeder anderen Stadt eben auch.

Traurig gehe ich an den Postkarten Ständen vorbei und halb glücklich, halb fremdschämend sehe diesen billigen Versuch den Ruhrpott Dialekt auf die Karten zu drucken, damit man es seinen Freunden und Verwandten zur Belustigung schicken kann, während selbst dieser schmutzige aber herzliche Dialekt, an den man sich gerade so noch erinnert, eigentlich kaum noch von irgendwem gesprochen wird.

Andere Postkarten zeigen dann die Zeche Zollverein. Ja, das muss unsere wunderbare Ruhrpott Kultur sein - Weltkulturerbe... dass ich nicht lache. Diese auf Tourismus zugeschnittene, auf Hochglanz polierte Dreckszeche, die auch schon, wie alle anderen, abgerissen worden wäre, würde sie nicht so viel Geld einbringen.

Alles was von unserer Kultur übrig geblieben ist, sind Fragmente, mit denen wir uns schmücken aber höchstens noch aus unserer Kindheit kennen - und alles was mich hier hält sind die Erzählungen meines Vaters und meine Freunde, deren Herzen genauso für diesen schmutzigen, asozialen Charme schlagen wie meines, mit denen ich mich daran sehnsuchtsvoll festklammern kann, während ich mir eingestehen muss dass es in ein paar Jahren hier so sein wird wie überall anders eben auch. Alles was ich liebe wird ausgestorben sein und über die Kultur unserer kulturlosen Stadt wird dann gesprochen wie man etwa wage und mystisch über Wicca Kulte spricht.

Es tut mir nicht weh Essen zu verlassen, es tut mir weh die sterbenden, röchelnden Überreste, an die ich mich verzweifelt und erfolglos klammere zu verlassen und mir einzugestehen... dass es sich einfach nicht mehr nach meinem Zuhause anfühlt.